Mit der 2014 gestarteten Serie zum Thema „Zeit“ habe ich die Büchse der Pandorra geöffnet und nun kriegen wir die Geister, die wir riefen, nicht mehr los.
Unzählige Zuschriften und persönliche Bekundungen, die Serie doch weiter zu schreiben, sind auf fruchtbaren Boden gefallen.
Also begebe ich mich auch 2015 weiter auf die Suche nach der verlorenen Zeit.
Meine erste Gesprächspartnerin im Februar ist Evelyn Meining, Intendantin des Mozartfestes Würzburg.
Leporello (L): Welche Rolle spielt die Zeit bei der Organisation des Mozartfestes?
Evelyn Meining (EM): Wenn ich plane, muss ich der Zeit voraus sein. Wichtige Künstler sind oft mehrere Jahre im Voraus gebucht. Das ist der pragmatische Aspekt. Mit der Zeit geht das Mozartfest, indem es durch seine Themen und Programmideen aktuelle Fragen aufwirft. Das ist der inhaltliche Aspekt. Natürlich setzen wir bei Mozart und seiner Zeit an. Das ist der historische Aspekt. Musik ist eine Zeitkunst: Ihr Wesen erschließt sich, wenn man ihre Zeitstrukturen versteht. Das ist der kompositorische Aspekt. Da sind wir auch als Musikvermittler gefragt. Warum ist große Musik zeitlos? Weil man sie aus verschiedenen Zeiten heraus erfahren kann. Zeitlosigkeit und Zeitbezogenheit gehören zusammen. Das ist der philosophische Aspekt.
L: Welche Rolle spielt die Zeit bei der Fragestellung 2015 „Was heißt hier Klassik?“
EM: Die sogenannte Wiener Klassik ist eine Epoche, die aber von Mozart, Haydn oder Beethoven nicht als solche und schon gar nicht als geschlossene wahrgenommen wurde. Heute ist Klassik ein Gummibegriff. Eine Automarke kann ein Klassiker sein, ein Kochrezept, ein Film. „Klassik“ soll bedeuten, dass ein Produkt über einen längeren Zeitraum hinweg gut und gültig ist. „Klassik“ ist oft eine Art Verkaufsempfehlung. Ein Etikett. Das Mozartfest 2015 fragt, was Klassik in Bezug auf Mozart heißt und was dieser Rang des „Klassischen“ für Komponisten, Interpreten, Wissenschaftler und Medienprofis bedeutet, die sich auf Mozart einlassen.
L: Muss man mit einem Festival wie dem Mozartfest mit der Zeit gehen und massenkompatibel sein, damit die Zuschauerzahlen stimmen?
EM: Ein Festival hat viele Facetten. Die Nachtmusiken im Park der Würzburger Residenz sprechen mehr Leute an als ein Streichquartett-Abend. Beides gehört zum Profil des Mozartfestes. Wir versuchen, die richtigen Programme für die richtigen Spielstätten zu machen. Dann stimmt auch die Auslastung. Wobei ich, ehrlich gesagt, mit dem Begriff der Masse nicht viel anfangen kann. Die Masse besteht ja aus vielen Einzelnen. Jeder der 4000 Menschen, die zu einer Nachtmusik kommen, hat andere Erfahrungen, hört anders, erlebt etwas anderes. Programme, die für viele Menschen gedacht sind, sind daher nicht weniger anspruchsvoll, nur anders. Und Kinder sind die anspruchsvollsten Hörer überhaupt. Sie spüren sofort, wenn etwas nicht stimmt oder routiniert von der Stange kommt.
L: War es an der Zeit für das Format MozartLabor – wie ist das Resumé aus dem vergangenen Jahr?
EM: Die Reaktionen waren überaus positiv. Sie haben gezeigt, dass die Einrichtung des MozartLabors wichtig und richtig war. In gewisser Weise überschneiden sich ja auch dort die Zeiten, wenn junge Stipendiaten und renommierte Dozenten aufeinandertreffen, Profis und interessierte Laien. Das MozartLabor ist offen für alle. Jedermann ist eingeladen zum Mitdenken und Mitdiskutieren. 2015 werden wir übrigens im MozartLabor mit den Programmchefs von drei Mozart-Festivals diskutieren, was es heißt, „mit der Zeit“ zu gehen und auch, wie sich Qualität und Zuschauerverhalten zueinander verhalten.
L: Das Kloster Himmelspforten – ein zeitloser Ort – Ort für das MozartLabor, Pressekonferenz, unser Fotoshooting. Wie passt dieser zeitlose Ort zum Mozartfest?
EM: 750 Jahre durchbetete Räume, das macht Himmelspforten aus: Spiritualität, die Konzentration und Inspiration ermöglicht. Es ist ein Ort, der mich umfängt. Er wärmt meine Seele und schärft gleichzeitig die Sinne. So geht es auch vielen anderen, die hier eintreten. Und natürlich kommen diese positiven Schwingungen nicht allein aus einem puren Bauwerk, sondern leben in der Verbindung mit den Menschen, die dort wirken.
L: Wie schwer ist es, mit Mozart A ntworten auf die „Bewusstlosigkeit“ unserer Zeit zu geben?
EM: Es ist nicht unser Ansatz, Antworten zu geben. Wir sind Fragende, das heißt, wir wollen die richtigen Fragen stellen. Antworten wird dann jeder für sich geben. Produktive Fragen schaffen produktive Antworten. Die „Bewusstlosigkeit“, die Sie ansprechen, kommt sicherlich zu einem Teil aus dem Überfluss. Wir haben ja heute alles – außer vielleicht genug Zeit. Viele Menschen suchen nach Orientierung. Nach Werten. Nach Halt. Die Musik kann da weiterhelfen. Sie bereichert unser Leben, wenn wir uns wirklich auf sie einlassen. Das Mozartfest bietet dazu viele und ganz unterschiedliche Möglichkeiten. Das wichtigste daran ist, dass wir Musik gemeinsam erleben. In einem bestimmten Raum, zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten inhaltlichen Rahmen, mit bestimmten Künstlern. Das alles hier und jetzt. Daraus können neue Erfahrungen und Erlebnisse wachsen.
L: Warum ist es 2015 Zeit für Diana Damrau, Albrecht Mayer oder Frank Peter Zimmermann?
EM: Für Spitzenmusiker ist es immer an der Zeit, ihre Visitenkarte beim Mozartfest abzugeben. Und es ist meine Aufgabe, Terminkalender und Zeitpläne dieser Künstler manchmal auch zu überlisten.
L: Welche Rolle spielt die Zeit für Sie persönlich?
EM: Natürlich ist mir als Musikmanagerin die Zeit oft zu knapp. Das ist banal, und man kann lernen, Zeit in diesem Sinn zu organisieren. Persönlicher gesprochen, empfinde ich die mir gegebene Zeit als Geschenk. Als Mutter von zwei Töchtern weiß ich, wie wunderbar es ist, wenn die Zeit stillsteht. Wenn wir uns ganz aufeinander einlassen. Meine Kleine ist jetzt drei Jahre alt. Sie hat alle Zeit der Welt. Alles, was sie tut, hat eine kleine Unendlichkeit in sich. Ist diese Freiheit im Umgang mit der Zeit nicht toll? Etwas, das wir uns als Erwachsene mühsam zurückerobern müssen. Die Musik hat auch diese Freiheit, mit der Zeit umzugehen, wie sie will. Jedes einzelne Werk löst das neu und anders.
L: Welche Rolle spielten bestimmte Stücke zu bestimmten Zeiten in Ihrem Leben? Welche Musik dominierte welche Lebensphase?
EM: Beethovens „Fidelio“ im Kontext der Wende war so ein Erlebnis. Ich bin in der DDR aufgewachsen. 1989 an der Semperoper in Dresden: wo die Inszenierung von Christine Mielitz Mauer und Stacheldraht auf die Bühne gebracht hat und draußen die Polizei aufmarschierte. Es gibt Jazz von Nils Landgren, den höre ich, wenn ich traurig bin. Die großen Oratorien, insbesondere von Bach, habe ich sehr gerne im Chor bei den Gächingern unter der Leitung von Helmuth Rilling mitgesungen. Es gibt viel Musik mit persönlichen Prägungen.
L: Inwiefern stimmt für Sie das Zitat „Musik ist die Stenografie unseres Gefühls“?
EM: Stammt von Tolstoi, oder? Ist nicht falsch, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Das Großartige an Musik ist doch, dass sie Gefühl und Verstand gleichermaßen anspricht. Keine andere Kunst kann das in dieser Weise. Keine dringt buchstäblich mehr in uns ein, erfasst mehr Kanäle der Wahrnehmung. Deshalb kann Musik auch eine Therapie sein. Deshalb kann sie aber auch missbraucht werden, zum Beispiel für politische und propagandistische Zwecke, oder auch ganz einfach in der Werbung. Wenn man sie richtig versteht und sie nicht einfach benutzt, dann kann sie mehr ausdrücken und auslösen als alle Weisheit und Philosophie. Beethoven hat das gesagt. Recht hat er.
Das Interview mit der Intendantin des Mozartfestes Evelyn Meining, führte Leporello Chefredakteurin Susanna Khoury