Leporello im Gespräch mit Dr. Jürgen Lenssen, Domkapitular und Kunstreferent der Diözese Würzburg, über „Zeit“

von Susanna Khoury (erschienen in Ausgabe 03/2014)

In der neuen Leporello-Rubrik „Zeit“ beleuchte ich unsere High- Speed-Gesellschaft in allgemeinen Abhandlungen, genauso wie in Einzelinterviews mit Vertretern der unterschiedlichsten Berufe.

Mein erster Gesprächspartner ist Dr. Jürgen Lenssen, Domkapitular und Kunstreferent der Diözese Würzburg.

Vom „Mann der Kirche“ wollte ich wissen: Geht man mit seiner Zeit anders um, wenn man nicht alles im Jetzt und Hier erledigen muss, sondern als Option noch die Ewigkeit hat?

„Es ist erwiesen, dass Ordensleute ein höheres Alter erreichen. Meiner Meinung nach ist das deshalb so, weil sie einen geregelten Tagesablauf haben. Es gibt Zeiten der Arbeit, Zeiten der Mahlzeit, Zeiten des Gebets und Zeiten der Erholung. Dass alles festgelegt ist, fühlt sich für Außenstehende vielleicht wie ein Korsett an, aber innerhalb dieses „Korsetts“ kann man sich entfalten und ist frei!“, so Domkapitular Dr. Jürgen Lenssen.

Die unendlichen Wahlmöglichkeiten unserer Zeit gaukeln eine nie dagewesene Freiheit vor, die keine ist. Denn wir haben gar nicht so viel Zeit, alles wahrzunehmen, was sich bietet.

Das Gefühl, das sich dabei einstellt, ist Unzufriedenheit. Denn, wenn ich mich für eine Sache entscheide, muss ich auf eine andere verzichten. Defizitäre Freiheit also.

Sollte Freiheit nicht positiv besetzt sein? Verlieren wir durch immer weitere Optionen auf allen Gebieten nicht mehr als wir gewinnen?

„Die Zeit ist eine Ab- folge von Geschehnissen und jeder Mensch kann nur eine bestimmte Anzahl davon verarbeiten. Wenn ich das Tempo unaufhörlich steigere, keine Zeit für Reflexion habe, gewinne ich nicht an „Leben“, sondern verliere an Lebensqualität“, so der Träger des Bundesverdienstkreuzes Dr. Lenssen.

Er rät zu einer „Askese von Engagement“, um Zeit zu gewinnen.

Nur im Verzicht und durch die stärkere Fokussierung auf ausgesuchte Geschehnisse gewinnen die einzelnen „Events“ wieder an Bedeutung. Beim Parforceritt durch einen 16-Stunden- Tag, an dem ein Termin den anderen jagt, stellt sich durch das Abarbeiten der Geschehnisse ganz automatisch Oberflächlichkeit ein.

In diesem Zustand registrieren wir nur noch - auch unser Gegenüber! Dass wir wahrnehmen wäre schon zu viel versprochen. Das geht auch fast nicht bei so einer kumulierten Reizüberflutung.

Hier kann weder unsere Physis noch unser Psyche mehr mithalten. „Die Krankheit unserer Zeit ist, dass wir das Verhältnis zur „Zeit“ verloren haben“, so der gebürtige Mönchengladbacher Lenssen.

„Wir begreifen nur schwer, dass, wenn mir etwas vermeintlich entgeht, ich etwas anderes gewinne... vielleicht mich selbst!“

Der 67-Jährige arbeitet gern, das sei aber nicht alles für ihn. „Ich bin tief gläubig und denke daher, dass die Dinge kommen, wie sie kommen. Wenn wir sie beschleunigen wollen, klappt das nicht. Ich glaube an so etwas wie Fügung. Je mehr wir uns Zeit geben, desto mehr gelingt das Leben!“

Die mangelnde Religiosität unserer Zeit hat viel damit zu tun, dass wir drei Leben in einem leben wollen. Ersatzreligionen wie Geld, Technik, Konsum oder Medien treiben die Maschinerie an und halten den Glauben an die schöne, schnelle Welt aufrecht.

„Die Zeitmaschinerie relativiert sich, wenn man gläubig ist. Man ist gelassener und nimmt sich selbst nicht so wichtig!“, so der mehrfache Kulturpreisträger.

Apropos Kultur... gerade die Kunst, so Dr. Lenssen, sei ein Feld, für das man sich Zeit nehmen muss, um zu verstehen. Kulturgenuss funktioniert nicht nebenbei.

„Erst, wenn ich mir Zeit nehme, Kunst und Kultur zu reflektieren, kann ich einen Zugang finden und sie verstehen!“ Und das gilt nicht nur für die Kultur, das kann man 1:1 auf die Menschen und die Welt übertragen.

Ich muss mir Zeit nehmen, über das, was mein Gegenüber antreibt, nachzudenken, um ihn/sie zu verstehen. Und mit der Welt ist es noch komplizierter. Das Nachrichten-Stakkato aus aller Welt rauscht im Stundenrhythmus vorbei, ohne uns zu berühren. Wie auch und vor allem wann? Luxusgüter wie „Emotion“ und „Empathie“ können wir in unserem durchgetakteten Tag zeitlich wirklich nicht leisten.

Schöne kalte Welt! Wärme in den Tag von Dr. Jürgen Lenssen bringen seine Künstler, die er als Seismographen begreift.

Durch sie war er oft seiner Zeit voraus und handelte sich im Spannungsfeld von Kunst und Kirche Schelte eine. „Nicht ich war meiner Zeit voraus, sondern die Kunst war ihrer Zeit voraus“, verbessert mich der Kunstliebhaber augenzwinkernd.

Auf meine Frage, wie er mit den herben Anfeindungen, die er wegen seiner Kunstauswahl im kirchlichen Räumen erdulden musste, umging, sagte er gelassen: „Man muss den Menschen Zeit geben!“

Heute mokiert sich keiner mehr über die Ritterkapelle in Haßfurt oder das Museum am Dom. Im Gegenteil, alle sind stolz und keiner möchte sie mehr missen. Während er den Menschen Zeit ließ, legte sich Dr. Jürgen Lenssen ein dickes Fell zu.

Bisweilen musste er mit persönlichen Drohungen gegen seine Eltern oder seine eigene Person zurechtzukommen.

„Man kann das nur aushalten, wenn man davon überzeugt ist, dass der Weg, den man geht, der Richtige ist. Und wenn es mal ganz schlimm kam, hielt ich es mit dem „15. Nothelfer“ Götz von Berlichingen, sagt Lenssen schmunzelnd.

Meine letzte Frage an den Mann der Kirche lautete: Was wünschen Sie sich für unsere Zeit?

„Dass die Menschen aufhören mögen, dem Leben mehr abzuverlangen, als das, was möglich ist, und dass sie sich Zeit für Reflexion nehmen!“

Das Interview mit Dr. Jürgen Lenssen, Domkapitular und Kunstreferent der Diözese Würzburg führte Leporello-Chefredakteurin Susanna Khoury.

Bildnachweis: SCHMELZ FOTODESIGN

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