Leporello wirft mit Willigis Jäger, Benediktinerpater und Zen-Meister, einen Blick auf die „Zeit“

von Susanna Khoury (erschienen in Ausgabe 5/2015)

„Das Ziel der spirituellen Wege ist nicht irgendein ekstatischer Zustand, auch wenn sich viele Menschen Mystik so vorstellen... Ekstase ist nur Durchgang. Das Ziel ist die Erfahrung des Lebens in diesem Augenblick“, so Willigis Jäger.„Zeit, die wir uns nehmen, ist Zeit, die uns etwas gibt!“ – war die Überschrift unserer letzten „Zeitreise“ im April-Leporello mit dem Garten Fräulein Silvia Appel.

Und obwohl die 28-Jährige Marketingfrau auf den ersten Blick so gar nichts mit dem 90-Jährigen Willigis Jäger, unserem Interviewpartner vom Mai-Leporello, gemein zu haben scheint, blicken beide doch ähnlich auf die „Zeit“.

13 Leporello- Ausgaben ist es her, als ich die Büchse der Pandora geöffnet und die Frage gestellt habe: „Was ist Zeit?“.

Zeitweise schien es ein aussichtloses Unterfangen, der „Zeit“ auf die Spur zu kommen.

Denn je mehr ich mich ihr augenscheinlich annäherte, desto mehr schien sie sich meiner Eingrenzung und Festlegung entziehen zu wollen.

Wie Sand, der einem durch die Finger rinnt, so fest man die Hand auch geschlossen hält.

Nun habe ich das erste Mal, wenn auch nur für den Moment, das Gefühl, dem Geheimnis der Zeit auf die Spur zu kommen.

Ein Schlüssel zum Verständnis der „Zeit“ heißt Achtsamkeit. „Das Leben liegt im Hier und Jetzt, im Augenblick des Alltags.

Im Grunde tun wir auf unserem spirituellen Weg nichts Besonderes, wir versuchen den Augenblick zu leben.

Da sind wir zu Hause, da sind wir unserem Seinsgrund am nächsten“, so der Seelsorger und einer der einflussreichsten Mystiker der Gegenwart, Willigis Jäger.

Mal ehrlich, wie oft ertappen wir uns dabei, etwas möglichst schnell erledigen zu wollen, damit wir Zeit für etwas haben, was wir für unser wirkliches Leben halten.

Doch der Stapel an unerledigten Dingen wird nie abgearbeitet sein, was in der logischen Konsequenz bedeutet: Wir werden nie wirklich Zeit zu leben haben.

2003 schuf Willigis Jäger, Benediktiner und Zen-Meister, mit dem „Benediktushof“ in Holzkirchen ein international anerkanntes Zentrum für spirituelle Wege.Von daher „Carpe diem!“, aber nicht so, dass uns Termine und Pflichten nicht mehr kümmern, sondern so, dass das eine mit dem andern eine harmonische Liaison eingeht.

Schön gesagt, wird sich der ein oder die andere nun denken, aber hat das etwas mit der Realität zu tun oder noch besser gefragt, lässt sich das in der Realität unser High- Speed-Gesellschaft, von der wir alle mehr oder weniger Teil sind, umsetzen?

In der Tat und nur dort im Hier und Jetzt unserer einzigen Realität, die wir haben. Einfach schon mal dadurch, dass wir nicht ständig „in Gedanken“ sind.

Meist beschäftigen wir uns, selbst in einem Gespräch mit einem Gegenüber gedanklich schon mit der To-Do-Liste von Morgen oder noch mit dem Streitgespräch von gestern Abend. Unsere Aufmerksamkeit ist nicht immer da, wo unser Leben gerade stattfindet, nämlich in der Gegenwart.

Wenn wir dieser Zeit unsere volle Aufmerksamkeit widmen würden, wäre schon viel gewonnen und vor allem keine kostbare Zeit verloren.

Der gebürtige Hösbacher Wunibald Jäger schiebt unserem Intellekt den schwarzen Peter zu. Dieser halte uns in den meisten Fällen davon ab zu leben: „Zeit kennt nur unser Intellekt.

In Wirklichkeit sind wir nur ein „Wellenschlag“ in diesem zeitlosen Universum. Unser Verstand ist ein unvollkommenes Instrument, um die Wirklichkeit zu begreifen... Es geht um eine Präsenz, die aus der Tiefe des Seins selber aufsteigt.

Was auf den ersten Blick wie eine Verengung aussehen mag (sich nur auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren), ist in Wirklichkeit der wahre Einstieg ins wirkliche Leben!“

Volle Konzentration auf die gegenwärtige Situation ist also eine Verabredung mit dem Leben, die uns Zeit schenkt?

Heike Mayer erzählt in ihrem Büchlein „Achtsam leben“ aus dem Scorpio Verlag die Geschichte vom galoppierenden Pferd: „Ein Mann, der ruhigen Schrittes auf einer Straße entlanggeht, wird von einem Reiter überholt, der auf einem galoppierenden Pferd an ihm vorbeirast.

„Wo reiten Sie denn so schnell hin?“, ruft ihm der Mann hinterher. „Das weiß ich nicht“, schreit der Reiter zurück, „das müssen Sie schon das Pferd fragen!“

Unser tägliches Hamsterrad dreht sich oft so schnell und wir mit ihm, dass wir keinen Gedanken daran verschwenden, ob wir es nicht eventuell doch mal kurz anhalten könnten – weil wir für uns für den Gedanken schon keine Zeit mehr einräumen.

Irgendwie absurd – und der Grund dafür gelebt zu werden, statt zu leben, obwohl wir es doch selbst in der Hand haben.

Zum 90. Geburtstag im März kamen Gäste aus Spanien, Italien, Frankreich, Belgien, Schweiz und den U.S.A angereist. Dabei ist in gemeinschaftlichem Tun ein besonderes Geburtstagsgeschenk entstanden: unzählige bunte, von Hand gefaltete Origami- Kraniche. Der Kranich ist in Japan ein Symbol des Glücks und der Langlebigkeit, und wer tausend Kraniche faltet, sagt die Legende, hat einen Wunsch frei. Diesen Wunsch hat der Jubilar nun geschenkt bekommen und es sind sogar über 3.000 Kraniche zusammengekommen.Der Zenmeister „Kyo-un Roshi“ (was soviel heißt wie „Leere Wolke“) alias Willigis Jäger hat dafür Verständnis und erklärt: „Wir brauchen Zeichen am Weg, die uns erinnern. Der Atem ist ein solches Zeichen... Es gibt viele Gelegenheiten, wirkliches Leben einzuüben, das heißt ganz bei uns zu sein, ganz bei dem, was wir tun. Es mag dann schwer fallen, manche Dinge gleichzeitig zu tun, wie Essen und Fernsehen, Lesen und Musik hören. Wir haben wieder zu lernen, wie man isst, Salat putzt oder bestimmte Dinge tut.“

Wirkliche Aufmerksamkeit, die volle Konzentration auf das Hier und Jetzt, ist die wichtigste Übung unserer Gegenwart in unserer Gegenwart.

Und das Leben des Augenblicks ist auch die Unterbrechung unserer Ichaktivität, wo sich alles wie in einer Nabelschau immer nur um die Lösung der eigenen Probleme dreht.

„Unsere Gesellschaft krankt am Narzissmus. Der Grieche Narziss konnte immer nur sein eigenes Bild im Wasser sehen bis er schließlich im Wasser ertrank. Er konnte sich zum kosmischen Einen hin nicht öffnen. Auch wir haben Probleme. Der Sinn unseres Menschseins liegt nicht in unserer personalen Struktur, sondern in der Seinserfahrung,“ betont der Gründer des spirituellen Zentrums „Benediktushof“ in Holzkirchen Willigis Jäger.

„Achtsamkeit ist es, was uns ermöglicht, inne zuhalten, zu merken, was gerade passiert, und zu entscheiden, wie wir mit uns und mit der aktuellen Situation umgehen wollen“, schreibt die Autorin Heike Mayer.

Wir haben also die Wahl, den Augenblick zu leben oder ihn ohne Höhen und Tiefen vorbeiziehen zu lassen.

Es ist natürlich auch oft angenehm, mehreres gleichzeitig zu tun, beschäftigt und abgelenkt zu sein, so dass etwas einen nicht wirklich angreifen kann, weil es ja gar nicht nah genug herankommt.

Aber auch diese Medaille hat zwei Seiten: Nicht nur das Traurige, Belastende und Schreckliche kommt nicht mehr bei uns an, sondern auch das Schöne, Liebevolle und Berührende.

Präsent zu sein macht unser Leben tief und Präsenz entsteht aus Achtsamkeit heraus!

Die Trainerin für Mindfulness- Based Stress Reduction, Ferris Urbanowski, sagt: „Achtsamkeit hat eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie: Die Gute ist, dass Sie intensiver wahrnehmen. Die Schlechte ist, dass Sie intensiver wahrnehmen“.

Dem ist von meiner Seite nichts mehr hinzuzufügen.

Bildnachweis: Daniel Peter, Monika Prestel, Benediktushof

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