Wie ein nicht geführtes Interview mit Ferdinand von Schirach über „Wahrheit“, „Wirklichkeit“ ans Licht brachte

von Susanna Khoury (erschienen in Ausgabe 6/2018)

Nachdem Ausstieg aus seinem ersten Beruf des Strafverteidigers, legte Ferdinand von Schirach eine zweite Karriere als Schriftsteller hin. Seine Bücher eroberten bis dato allesamt die Bestsellerlisten!Ganz ehrlich, zunächst kränkt es schon ein bisschen, wenn die Person, die man für sein nächstes Interview im Leporello-Spezial über „Wahrheit“ auserkoren hat, sich verweigert.

Ferdinand von Schirach gebe keine Interviews, so Intendant Markus Trabusch, der den Vertrag mit dem Strafverteidiger, Schriftsteller und Dramatiker anlässlich Schirachs Lesung im Mainfranken Theater unterschrieben hat.

„Wir bitten die anwesenden Medienvertreter zu beachten, dass Ferdinand von Schirach leider nicht für Fragen oder Interviews zur Verfügung steht. Eine Aufzeichnung der Veranstaltung auf Ton-, Bild- oder Bildtonträgern ist ebenfalls nicht gestattet“, so der Kurztext, der am Veranstaltungstag nochmals den Eintrittskarten beigelegt war.

Nun gibt es zwei Vorgehensweisen: entweder man legt die Anfrage ad acta, nach dem Motto: „Wer nicht will, der hat schon“ oder man springt über seinen Schatten (die Zahl der anwesenden Kollegen bei der Lesung war verschwindend gering...) und versucht herauszufinden, warum ein von Beruf Wahrheitssuchender, wie man selbst als Journalist ja auch einer ist, sich Fragen auf der Suche nach Wahrheit verbittet.

Es gibt keine Antworten!?

Erste Antworten gibt der Bestsellerautor, dessen Bücher bisher in 40 Ländern erschienen sind, gleich zu Anfang der Lesung, als er erklärt, warum er Ehrengäste, wie ihm aufgetragen wurde, nicht gesondert begrüße: „Weil es ganz gleich ist, ob Bücher von einem Bundespräsidenten, einem 13-jährigen Schüler oder einem Obdachlosen gelesen werden“.

Wichtig sei einzig, ob sie berührten, ob sie zeigten, dass wir mit unseren Empfindungen, Gedanken und Fragen nicht alleine sind...!

Und auch der Tenor des ersten Teils der Lesung über den Prozess des Sokrates, der in Athen zum Tode verurteilt wurde, weil er nicht glauben wollte, was er glauben sollte, bringt augenscheinlich Licht ins Dunkel auf der Suche nach Wahrheit.

Auch wenn Ferdinand von Schirach behauptet: „Es gibt keine Antworten, es gab sie noch nie“, so bringt das geflügelte Sokrates-Wort „Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß“ doch Klärung. In seiner Verteidigungsrede vor dem griechischen Gericht outete sich der Philosoph als Nicht-Wissender: „Ich weiß, dass ich nicht weiß!“.

Das später angehängte „s“ war ein Übersetzungsfehler, was der Aussage aber keinen Abbruch tut. Sokrates plädiert dafür, vermeintliches „Wissen“ zu hinterfragen, da es sich meist bei näherer Untersuchung als unhaltbares Scheinwissen entpuppe.

Sicheres Wissen oder gar Wahrheit über die großen Themen des Lebens gebe es seiner Ansicht nach nicht. Deshalb seien Urteile, basierend auf diesem vermeintlichen Wissen, zweifelhaft.

So lehrte Sokrates Bescheidenheit, sagt Ferdinand von Schirach, weil wir nichts sicher wissen und so immer auf uns selbst zurückgeworfen seien.

Nur der Mensch könne das Maß aller Dinge sein ... also Humanität und Menschlichkeit als höchstes Gebot?

Der Weg zur Wahrheit, die Kunst?

Leporello Chefredakteurin Susanna Khoury, wie sie Ferdinand von Schirach nicht interviewte…Und dennoch haben die meisten Menschen Prinzipien und Wahrheiten, die das „Koordinatensystem“ ihres Lebens bilden... bis diese durch eine Begebenheit oder einen anderen Menschen ins Wanken geraten.

Dann kann man sich neu justieren, Althergebrachtes über Bord werfen und ein neues „Koordinatensystem“ kreieren, oder man hält an ewig Gestrigem fest und reibt sich daran auf. Dass Wirklichkeit und Wahrheit verschiedene Dinge sind, erzählt Schirach auch in seinem Roman „Tabu“.

Der Künstlerroman, der gleichzeitig Justizdrama ist, manifestiert die Aussage Schirachs, dass Kunst provozieren müsse.

Nur so könne sie den Weg zur Wahrheit bahnen. „Aber manchmal bekommt die Zeit einen Riss und in diesem Moment begreifen wir: Wir können nur unser Spiegelbild sehen“, heißt es am Ende des Buches, in dem ein Künstler und ein Anwalt versuchen zu begreifen, was Wahrheit ist.

Die Grenzen unseres Denkens sind die Grenzen unserer Welt?

Keine Leichtigkeit des Seins

Niemand könne den anderen wirklich verstehen, heißt es in „Tabu“. Vielleicht zeichnet er deshalb die meisten seiner Protagonisten auch als einsame Streiter? Einsamkeit ist übrigens eine Grundeinstellung, die er mit seinen Figuren teile. Apropos Nähe, die ließ er auch in der anschließenden Signierstunde nur bedingt zu.

Höflich, aber doch distanziert, geht der Bestsellerautor mit seinen Fans um. Die imaginäre Wand, die er um sich errichtet hat, bleibt stehen.

„Die Stille zwischen den Sätzen ist das einzige Maß der Nähe zu einem anderen Menschen“, heißt es seinem Künstlerroman „Tabu“.

Über sein Privatleben äußert er sich nicht und auch sonst umgibt ihn ein Nimbus des Nicht-Greifbaren. Zum Teil sicher gewollt, aber vielleicht nicht gänzlich.

Auf der anderen Seite stecken seine Geschichten voller Empathie, voller tiefer Gefühle, die der Motor für das Handeln der Protagonisten sind.

Im zweiten Teil der Lesung moderiert er die Kurzgeschichte „Der Freund“ aus seinem im März 2018 erschienenen Band „Strafe“ mit den Worten an: „Diese Geschichte ist eine meiner Persönlichsten“.

Es geht um den gewaltsamen Tod seines besten Freundes, die Geschichte dahinter und schlussend­lich darum, was das mit Schirach gemacht hat.

Wie er nach 20 Jahren als Strafverteidiger aufhörte und beschließt, Schriftsteller zu werden: „Ich dachte ein neues Leben wäre leichter, aber es wurde nie leichter“, schreibt er am Ende der Erzählung.

Es sei ganz gleich, ob wir Apotheker, Tischler oder Schriftsteller sind, die Regeln seien immer etwas anders, aber die Fremdheit, die Einsamkeit bleibe und alles andere auch, so Schirach. Leichtigkeit des Seins – bei ihm Fehlanzeige!

Dennoch bin ich froh, dass ich Ferdinand von Schirach live erlebt habe.

Durch die Weigerung, in Würzburg Interviews zu geben, hat er mich motiviert, schärfer hinzuschauen, besser zuzuhören und am Ende habe ich vielleicht mehr Antworten bekommen als mir lieb gewesen wären! Auch ohne Fragen zu stellen…!

Bildnachweis: Schirach: © Michael Mann

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