Was, wenn wir unser Leben delegieren?

von Susanna Khoury (erschienen in Ausgabe 1/2021)

Was, wenn wir am Ende des Tages nur ein Avatar unserer selbst sind?

„Corona“ hat uns gezeigt, selbst wenn wir das Analoge ins Koma legen, wir funktionieren, leben, arbeiten wir digital weiter. Wir leben schon lange mit dem Smartphone in der Hand. Wir sind „homo  digitalis“, beschreibt Autor Mat­thias Morgenroth in seinem im Echter Verlag erschienenen Buch „Anatomie des Handy-Menschen“, wie wir per Smartphone unsere Bedürfnisse verwirklichen, ohne sie zu realisieren, Impulsen nachgeben, ohne sie zu befriedigen, uns verbunden fühlen, ohne es zu sein. Ist es möglich, im Zeitalter der Digitalisierung falsch verbunden zu sein? Es werde uns immer erzählt, so der evangelische Theologe, dass die digitale Revolution nur die Geräte betreffe, nicht unsere Gefühle. Stimmt das?

Das Smartphone sei die Nabelschnur, mit der wir uns mit unserem „digitalen Zwilling“ verbunden fühlten, so Morgenroth. Ohne das Handy empfinden wir uns mittlerweile als wären wir amputiert. Und es ist nicht abzusehen, welchen neuerlichen Schub das Corona-bedingte „social distancing“ der smarten Technologie noch verleihen wird. Wir verlagern unser Leben und Erleben in virtuelle Welt. Smart oder dumm? Für viele waren Lockdown, Quarantäne oder gar Covid-19 nur zu ertragen, weil sie im ihrem digitalen Selbst weiterexistieren konnten, wo es keine Kontaktbeschränkungen gab.

Aber das Medium ist auch die Botschaft und verändert seine Nutzer. Es sei eine vorgegaukelte Freiheit, gibt Morgenroth zu bedenken. „Alles kann, nichts muss“, von wegen ... wir haben uns einen neuen „Uhr- Instinkt“ angeeignet, wie der BR-Reporter mit Schwerpunkt „Religion“ es nennt, der uns durch die Smartphone-Nutzung Zeitsouveränität vorgaukelt, die keine ist. Erwachsene würden alle 18 Minuten eine Tätigkeit unterbrechen, um auf das Smartphone zu schauen und Jugendliche sogar alle 6,5 Minuten. Was passiere, wenn wir uns an die „Weltvergesslichkeit“ beim Abtauchen in die digitale Parallelwelt gewöhnen und eine Form von „digitaler Demenz“ entwickelten, fragt Morgenroth. Wir können uns durch die neuen digitalen Möglichkeiten jeden Tag neu erfinden, das ist toll. Aber wann dienen die neuen Opportunities einem neuen Wachstum und wann lassen sie uns nur größer fühlen - wie Zwerge, die auf Bergen sitzen? Was ist, wenn am Ende des Tages aus den vielen digitalen Möglichkeiten keine Wirklichkeit wurde? Bleiben wir dann nicht hinter unseren Möglichkeiten zurück? Dr. Matthias Morgenroth plädiert in seinem Buch dafür, uns aus dem Diktat der Digitalisierung zu befreien, um wieder zu spüren, was uns guttut und was nicht. Er zitiert den großen Aufklärer Immanuel Kant: „Sapere aude, sentire aude!“ („Wage zu denken. Trau dich zu fühlen!“). Beim „Internet der Dinge“, das längst Realität geworden ist, können wir uns rausrechnen, und den Maschinen die Verantwortung übertragen, wenn wir sie erst einmal so programmiert haben, dass sie uns nicht mehr brauchen.

Was aber passiert mit unserem Leben, wenn wir es delegieren, selbst zum „Ding“ im Internet der Dinge werden, fragt der Familienvater Morgenroth. Und wir müssen uns alle fragen: wann ist das digitale Endgerät ein hilfreiches Werkzeug, wann ein schaler Ersatz für die wirkliche Welt? Die Grundaufgabe unserer Zeit ist es, das analoge und digitale Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Frage ist nur wie?


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Matthias Morgenroth: Anatomie des Handy-Menschen. Ein Seelen-Selfie. Echter Verlag Würzburg 2020, ISBN 978-3-429-05508-0, Preis: 16,90 Euro, www.echter.de

Bildnachweis: ©PantherMediaSeller-depositphotos.com

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