Die Wahrheit der Bahnhofsmission: Sie ist einfach da, rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr

von Susanna Khoury (erschienen in Ausgabe 7/2019)

Ohne die 30 ehrenamtlichen Mitarbeiter und den Förderverein könnten die 20 Festangestellten der Bahnhofsmission nicht gewährleisten  24 Stunden an 365 Tagen im Jahr für Hilfesuchende da zu sein.Was ist die Wahrheit über ein Leben auf der Straße – dieser Frage bin ich dieses Mal in unserem Spezial „Was ist Wahrheit“ zusammen mit Michael Lindner-Jung (59), seit 25 Jahren Leiter der Würzburger Bahnhofsmission, und Helmut Fries (76), seit 15 Jahren Vorsitzender des Fördervereins der Bahnhofsmission und langjähriger ehrenamtliche Mitarbeiter derselben, nachgegangen.
 
„Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.“ Für Michael Lindner Jung, den Leiter der Bahnhofsmission in Würzburg, besitzt dieser über 500 Jahre alte Ausspruch des deutscher Mystikers Meister Eckart immer noch Gültigkeit, mehr noch, er ist wahr in Bezug auf seine Arbeit in der Bahnhofsmission: „Wir können nicht für das Leben der Besucher in der Bahnhofsmission die Verantwortung übernehmen, es oft auch nicht ändern, wenn sie selbst es nicht wollen! Aber wir können urteilsfrei zuhören, Kontaktperson sein, Zuversicht geben und Empathie zeigen“, sagt der Diplom-Theologe und Betriebswirt.

Es gehe darum, die Menschen dort abzuholen, wo sie sich befinden, betont der ehemalige Rektor einer Würzburger Schule, der sich seit seinem Ruhestand ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission engagiert. Das hätte er auch erst lernen müssen. Es gehe nicht in erster Linie darum lösungsorientiert diese ohne jene Schritte zu empfehlen oder gar einzuleiten, sondern darum, Respekt gegenüber den ganz eigenen Wahrheiten, sprich Lebenswirklichkeiten, der Menschen zu zeigen, die hierher kommen. Viele der Besucher leben auf der Straße, noch mehr haben kaum soziale Bindungen. Für sie sei die Bahnhofsmission eine wichtige Anlaufstelle und der Abstecher dorthin gebe ihrem Tag Struktur, so Fries. Die „Wahrheit“ der Menschen, die die Bahnhofsmission aufsuchen, sei etwa, dass sie sich von der Gesellschaft im Stich gelassen fühlen. „Wenn es ganz ausgeprägt ist, ... hören wir oft auch: ich schaffe das Leben nicht mehr, und es lohnt sich auch nicht mehr“, so Lindner-Jung.

„Wenn die Bahnhofsmission dann der Grund ist, warum manche Menschen morgens aufstehen, haben wir viel erreicht!“ Erfolge kommen hier anders daher, weiß auch Helmut Fries: „Ich erinnere mich an eine Adventsfeier als ein bärtiger, ziemlich schmuddeliger Mann erstmals und auch letztmals bei uns in der Bahnhofsmission auftauchte. Wir sangen Weihnachtslieder und lasen Geschichten vor und plötzlich brach der 65-Jährige in Tränen aus und ging vor die Tür. Ich kam etwas später auch hinaus, gesellte mich zu ihm und fragte, ob es ihm gut gehe. Er sagte: „Ich habe mich erinnert!“ Dieses Erinnern „erreicht“ zu haben, dass sich der Mann wieder spüren konnte, zumindest einen Teil von sich, zu dem er den Bezug verloren hatte, das ist schon ganz viel.“ Vieler solcher Geschichten würde es geben bei über 45.000 Kontakten zu Personen, die allein im Jahr 2018 die Bahnhofsmission besuchten.

Anlässlich der Pressekonferenz zu 120 Jahren Bahnhofsmission (Festakt am 20. September um 15 Uhr im Würzburger Rathaus) wurde eine Wahrheit der Bahnhofsmission im Umgang mit ihren Gästen ganz deutlich: Hier kann man jederzeit ohne Termin und Anmeldung auflaufen. Man wird angenommen, ohne Wenn und Aber. Und bekommt Hilfe, ohne Bedingungen und Erfolgsdruck. 24 Stunden jeden Tag. „Manche Menschem benötigen nur ein Pflaster oder ein warmes Getränk, andere Nahrung für Leib und Seele, wieder andere das Gespräch in der Krise, eine Unterkunft für die Nacht und einige brauchen nur Begleitung beim Umsteigen in einen anderen Zug“, so Michael Lindner-Jung. In der Einrichtung der ökumenischen Christophorus-Gesellschaft am Hauptbahnhof seien alle Menschen willkommen, unabhängig von Alter, Religion oder Herkunft, ohne Wenn und Aber und egal in welcher Notlage sie sich befinden, ergänzt Helmut Fries.

Die Wahrheit der Mitarbeiter der Bahnhofsmission ist aber auch, dass die rund 20 Festangestellten ohne die Hilfe der 30 Ehrenamtlichen und des Fördervereins dieses „Ohne Wenn und Aber“ 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr nicht leisten könnten. Dass sie es leisten wollen, ohne Wenn und Aber, ist ganz augenscheinlich, weil man auch viel zurückbekommt, so der 76-Jährige Helmut Fries, und „weil ich nirgendwo so viel über das Leben erfahre wie hier“, so der 59-Jährige Michael Lindner-Jung. Auch lerne man hier ganz schnell, dass Mitleid fehl am Platz sei, so Fries. „Mitleid ist passiv, abwertend, macht den Anderen klein“, ergänzt der Einrichtungsleiter. Es gehe in erster Linie um Empathie, dass ich zumindest ahne, was mein Gegenüber umtreibt. Im zweiten Schritt dann eventuell um Mitgefühl, Zwischenmenschlichkeit, indem ich versuche, ihm/ihr etwas Gutes zu tun. Aber es gehe nie um Mitleid, so Lindner-Jung und Fries unisono.

Und es gehe auch nie um Wahrheit und Lüge. Die Frage nach der Lüge stellt sich in meinem beruflichen Alltag nicht, betont der Leiter der Bahnhofsmission: „Die bewusste Lüge unterstelle ich niemanden. Für mich gibt es höchstens die andere Wahrheit eines anderen Menschen, die mit meiner Wahrheit wenig oder keine Schnittmenge hat. Aber dennoch kann sie für ihn/sie wahr sein!“ Und da jeder Besucher seine ganz eigene Wahrheit habe, dürfe man auch nicht erwarten, dass man diese einfach nivellieren könne, meint Lindner-Jung. Annehmen, was ist, und dort abholen, wo ein Anknüpfungspunkt vorhanden ist, Begleitung bei den anstehenden Herausforderungen anbieten, aber niemanden dabei verbiegen oder gar zu etwas zwingen, das ist das Credo der Bahnhofsmission. Und sich immer bewusst machen: Am Ende des Tages suchen wir alle, egal wer wir sind, nach den gleichen elementaren Wahrheiten: Zuneigung, Akzeptanz, Glück, Wertschätzung, Gesundheit, Lebensfreude und Respekt – ohne Wenn und Aber!

Das Interview mit dem Leiter der Bahnhofsmission, Michael Lindner-Jung, und dem Vorsitzenden des Fördervereins Bahnhofsmission, Helmut Fries, führte Leporello-Chefredakteurin Susanna Khoury.



www.bahnhofsmission-wuerzburg.de
Hilfe unter Telefon 0931.73048800
oder bahnhofsmission@christophorus.de
oder am Bahnhofplatz 4 in Würzburg


Bildnachweis: Christophorus-Gesellschaft Würzburg

Anzeigen