Der Musikpsychologe Andreas C. Lehmann weiß, warum Musik Menschen so tief berührt

von Michaela Schneider (erschienen in Ausgabe 3/2021)


Selbst bekommt Musikpsychologe Andreas C. Lehmann, Professor an der Würzburger Musikhochschule, selten Gänsehaut beim Musikerleben. „Einzig regelmäßig passiert mir das, wenn es in meiner Vorlesung um die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach geht, verrät der 56-Jährige – und zwar, sobald er den berühmten Barrabas-Ruf für seine Studierenden hörbar mache. Die Passage sei bekannt dafür, dass sie Gänsehautmomente auslösen könne, sagt Lehmann, und weiter: „Bei mir tut sie das wahrscheinlich aus akustischen Gegebenheiten, aber auch, weil ich Bach sehr mag.“

Wissenschaftlich belegt ist, dass bestimmte musikalische Strukturen bestimmte Gefühle befördern können: Zum Beispiel seien plötzliche Übergänge von leise zu laut, starke musikalische Einsätze durch Chöre oder abrupte Wechsel von einer tiefen, sanften Männerstimme zu einer hoch einsetzenden Frauenstimme förderlich. Als praktisches Beispiel nennt der Musikpsychologe Duo-Balladen in der Popmusik: „Erst singt er, dann setzt sie mit einer Terz oder Sexte darüber sehr hoch ein. Dieser Umschwung in der Textur bedient im Gehirn eine bestimmte Funktion.“ Tatsächlich nimmt der Mensch Musik mit dem gleichen Hörapparat wahr wie seine tägliche Umwelt. Dabei ist er von Urbeginn an darauf getrimmt, die akustische Umwelt sehr emotional wahrzunehmen. „Von dort könnten Gefahrenhinweise kommen. Wenn es hinter uns knackt: Ist es die Schwiegermutter oder doch nur ein Löwe?“, sagt Lehmann – und muss selbst lachen. Das Stammhirn sei darauf getrimmt, sehr schnell auf akustische Stimulation zu reagieren. „Der Sympathikus wird angeregt, ich fange an zu schwitzen, das Herz schlägt schneller. Alles Reaktionen, die auch Musik auslösen kann“, erklärt der 56-Jährige. Allerdings spielt auch der Kontext eine Rolle: Wer angstfrei hoffentlich bald wieder im Konzert sitzt und weiß, dass nichts passieren kann, erlebt eher positive Erregung.

„Emotionshafte Episoden“, wie Lehmann bewegte Musikmomente nennt, kann nicht nur bekannte Musik auslösen. Die Frage aber ist laut dem Musikpsychologen: Kann Unbekanntes eine positive Emotion auslösen oder nur eine negative? „Wenn Sie eine Symphonie des beginnenden 19. Jahrhunderts hören, die einer Mozartsymphonie sehr ähnlich ist, fänden Sie sie wahrscheinlich gut, falls Sie Mozart mögen. Hören Sie dagegen etwa Stammesmusik der grönländischen Indianer, könnten Sie dem vermutlich wenig abgewinnen außer einem neugierigen ‚Oh, was ist das denn?‘“, sagt er. Doch bremst dies am Ende nicht jede Weiterentwicklung? Lehmann winkt ab: Erstens führten behutsame Veränderungen mit genügend Wiederholungen auch zu positiven Bewertungen. Zweitens gebe es eine Art Sonderkategorie. „In der Literatur ist von ästhetischer Emotion die Rede. Vereinfacht gesagt: Immer, wenn „Hoppla, hier kommt Kunst“ im Raum steht, setzen wir ein neues Gesicht auf und versuchen zu bewerten“, erklärt er. Es gehe dann nicht mehr nur um die Frage, ob ein Werk direkt anspreche. Stattdessen kämen andere Kategorien dazu: Ist es “schön“? Ist es innovativ? Ist es gut gemacht? Ist es stiltreu? Ist es passend? Auf dieser Grundlage werde dann beurteilt. Und nochmal zurück zur Stammesmusik grönländischer Indianer: Experten zufolge gibt es bestimmte Texturen in der Musik, die in allen Kulturen funktionieren und wohl tief im Menschen verwurzelt sind. Lehmann spricht von einer Art Urreflex. Akustische Hinweisreize auf bestimmte Emotionen – dem Lachen oder Weinen ähnlich zum Beispiel – würden in jeder Kultur verstanden. Hier spiele emotionale Ansteckung hinein: Musik tue dabei so, als sei sie selbst eine Person. „Hat sie zum Beispiel einen überraschenden witzigen Charakter wie in Werken von Joseph Haydn, lässt sich das Publikum von der guten Laune anstecken“, veranschaulicht der Musikpsychologe.










Bildnachweis: Robert Issing

Anzeigen