Leporello im Gespräch mit Hermann Schneider: Die andere Seite von „Die andere Seite“

von Lothar Reichel (erschienen in Ausgabe 10/2010)

Begonnen hat es mit Stevensons „Schatzinsel“. Jim Hawkins auf der Opernbühne, warum nicht? Der junge Knabe Hermann Schneider scheint damals ziemlich unverdrossen zu Werke gegangen zu sein und entwarf sein erstes Libretto. Aus dem gewagten Projekt wurde dann aber nichts – rückblickend gibt der Intendant des Mainfrankentheaters Würzburg zu, dass er „das mit den Schiffen“ irgendwie unterschätzt hatte. Schiffe auf der Opernbühne sind nun mal ein heikles Thema, wie jeder Regisseur weiß, der sich schon mit Wagners „Fliegendem Holländer“ abgemüht hat. Jedenfalls, die „Schatzinsel“verschwand in der Schublade, aber die Idee mit den Opernlibretti blieb. Mittlerweile ist aus dem jungen Draufgänger von damals ein veritabler Theatermann und Opernregisseur geworden, der nebenbei auch noch Textbücher für Opern schreibt. Das Libretto – wie das Filmdrehbuch eine literarische Gattung, die ein Schattendasein führt. Unverzichtbar, aber so gut wie nie als eigenes Werk gelesen und rezipiert. Als Reclamheftchen sind viele Libretti durchaus zu haben, aber wer liest sie wirklich? Interessant auch, dass kaum ein Name eines Librettisten außerhalb der Fachwelt geläufig ist. Ausnahmen: Lorenzo da Ponte, der für Mozart schrieb, und Hugo von Hofmannsthal, dem Richard Strauss geniale Vorlagen zu verdanken hatte. Und dann der, der seine Texte gleich selber schrieb und sogar stabreimte: Richard Wagner. Es mag Pech für Hermann Schneider sein, dass gerade keine Mozarts, Strauss’ und Wagners auf dem Markt zu haben sind. Denn das Opernlibretto lebt und stirbt mit der Musik. Dabei ist sein jüngster Coup, Alfred Kubins wenig bekannten Roman „Die andere Seite“ zu dramatisieren, ein fast so waghalsiges Unternehmen wie damals die „Schatzinsel“. Ein phantastisches, doppelbödiges, hochinteressantes Sujet: Die Reise eines Ehepaares in ein fernes, seltsames Land, in dem nichts ist, wie es scheint. Eine Art „Apokalypse now“, vom Mainfranken Theater in eindringlichen, aufwendigen Bildern in Szene gesetzt – der Junge von damals hätte sich gefreut, wenn seine „Schatzinsel“ auch so realisiert worden wäre. Ein Werk mit Potential zu einem echten Reißer. Vermutlich wird aber „Die andere Seite“ dennoch sehr schnell im großen Abseits landen – wo die sogenannte „zeitgenössische“ Oper ihren bevorzugten Aufenthaltsort hat. Und daran ist die Musik schuld. Solange „zeitgenössische“ Komponisten so schreiben, wie sie schreiben, vertun sie Chance um Chance. Selbstverständlich eine für manche Kreise völlig unmögliche, platte, dumme Behauptung, geboren aus Ignoranz und Verweigerung. Und dennoch ein unendliches Thema, eine traurige Geschichte – die etwas zu tun hat mit jener tiefen Sehnsucht nach der Freude an großer Musik.

Bildnachweis: Falk von Traubenberg

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