Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ im Meininger Staatstheater

von Lothar Reichel (erschienen in Ausgabe 11/2022)

Es ist keine Horrorgeschichte, wie der Titel vermuten lassen könnte, sondern ein Psychodrama. Allerdings eines, das zwischen den Zeiten und Welten spielt. In dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen und Leben und Tod nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Zumindest nicht für Paul, der die Liebe seines Lebens verloren hat und daran zerbrochen ist. In seinem Haus, das er die „Kirche des Gewesenen nennt“, bewahrt er die Erinnerungen an Marie auf wie Reliquien in einem sakralen Raum.

Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ wurde 1920 uraufgeführt und bescherte dem jungen österreichischen Komponisten zunächst einen großen Erfolg. Jüdischer Herkunft, emigrierte er 1934 in die USA und wurde in Hollywood mit Filmmusik bekannt und berühmt. „Die tote Stadt“ verschwand allmählich von den Bühnen und wurde erst in den 1970er Jahren wiederentdeckt und aufgeführt. Sie beruht auf dem symbolistischen Roman „Brugesla- Morte“ von Georges Rodenbach.

Nun ist die Oper erstmals im Staatstheater Meiningen zu sehen und hatte dort am 16. September erfolgreich Premiere. Wer Alfred Hitchcocks vielleicht besten Film „Vertigo - Aus dem Reich der Toten“ kennt, ist mit der Grundkonstellation der Handlung vertraut: Ein Mann verwindet den Verlust einer geliebten Frau nicht und projiziert die Erinnerung an sie auf eine Fremde - bis schließlich Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Einbildung nicht mehr auseinanderzuhalten sind. In Korngolds Oper ist es die Tänzerin Marietta, die in Pauls traumatisierter Traumwelt an die Stelle Maries tritt. Die vermeintlich reale Liaison stürzt ihn in eine schwere Krise, als ihm Marie erscheint und ihn an seine ewige Treue zu ihr erinnert. Aufgewühlt tötet Paul die Tänzerin - und im Tod sind sich nun beide Frauen gleich. Allerdings - und das ist der Coup der Oper - ist das alles nur ein Traum, eine ekstatische Wahnvorstellung in Pauls Psyche gewesen.

Am Ende der Oper verlässt Paul Brügge, die tote Stadt - für seine Meininger Inszenierung hat sich Regisseur Jochen Biganzoli einen etwas platten Schluss ausgedacht. Das Bühnenbild von Wolf Gutjahr zeigt auch nicht ein morbides Brügge, sondern auf der ständig rotierenden Drehbühne nüchtern analytisch Seelenräume. Das ist manchmal des Guten zuviel und kann auf Dauer ermüden. Die Meininger Hofkapelle unter Leitung von Chin-Chao Lin spielt Korngolds äußerst farbige Musik, die spätromantisch zurückblickt und die zeitgenössischen Modernismen um 1920 nur ahnen lässt, mit Verve und Delikatesse. Besonders an der „toten Stadt“ ist die immense Tenorrolle des Paul, die Charles Workman als Einspringer für Torsten Kerl in der Premiere bravourös meisterte. Eine Art „Luxus“ leistet sich Meiningen insofern, als Marietta und Marie, die gewöhnlich von nur einer Sängerin als Doppelrolle verkörpert werden, von Lena Kutzner und Deniz Yetim in zwei Rollen gesungen werden - wobei sich die beiden Damen von Aufführung zu Aufführung auch noch abwechseln, also jede von ihnen sowohl Marietta wie auch Marie singt. Das mag sich aber nur dem erschließen, der sich „Die tote Stadt“ mehrfach ansehen will - was sich durchaus lohnen kann, um sich die Tiefe des Werks und der Inszenierung zu erschließen. Am 19. November, 15. Dezember und 15. Januar 2023.

Bildnachweis: Christina Iberl

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