„In 35 Jahren Torturmtheater
haben wir festgestellt, was es
für kostbare Menschen, was für
tolle Menschen es auf der Welt
gibt“. Veit Relin, Impresario,
Schauspieler, Maler und Sänger
sitzt zufrieden in seinem Atelier
in Winterhausen, die unvermeidliche
Zigarre in der rechten
Hand. Die Frühlingssonne über
den breiten Dachliegefenstern
lässt sein weißes Haar ganz silbrig
glänzen. Auf dem Tisch vor
ihm alles Nötigste in greifbarer
Nähe.
Ein Trinkglas, das Feuerzeug, der Aschenbecher, ein paar Stifte. In diesem Moment ist Veit Relin mit sich und der Welt im Reinen. Neben ihm sitzt Angelika, die Ehefrau. Sie blättert in einem von drei Bänden. Es sind die zu dicken Büchern zusammen gehefteten Programme des Torturmtheaters, jedes einzelne von Veit, dem Allroundkünstler, individuell gestaltet. Hier hat er „seine“ Schauspieler verewigt, manches Szenen- oder Bühnenbild auf Papier verewigt.
Relin portraitiert Süskind
147 verschiedene Stücke mussten
in den 35 Jahren, die Veit Relin
im Torturm das Sagen hat, ausgewählt,
auf die Bühnenbretter gebracht
werden und am Ende dem
Publikum gefallen. „Aber das sind
längst nicht alle“ erinnert er sich.
„Es müssen an die 200 sein“, und
seine Frau ergänzt: „Für Konzerte,
Lesungen, kleine Events
haben wir gar keine Programme“.
Immer wieder huscht ein Lächeln
über ihr Gesicht, fällt ihr beim
Schmökern in den alten Blättern
diese oder jene Episode ein. Sie
stößt auf ein Porträt von Patrick
Süskind, dem Autor, der sich weder
interviewen noch fotografieren
lässt.
„Eines Tages stand er in unserem Münchner Atelier und hat sich von mir malen lassen“, schmunzelt der Hausherr. „Mein ,Kontrabass‘ hat ihm halt richtig gut gefallen.“ Stolz schwingt in der Stimme des alten Herren. Und er hat allen Grund dazu. Denn viele heute berühmte Künstler haben in Sommerhauen ihre Karriere begonnen, unter seiner Anleitung gelernt und sich entwickelt. Für Falckenberg- Schüler Frank Muth, in Würzburg geborener Schauspieler, findet sich bis heute immer wieder eine Rolle. Joachim Krols erster Tatort war die Torturmbühne. Regelmäßig schaut er bis heute vorbei. „Er hat nicht vergessen, dass ihm Lörchen seine allererste Gage ausbezahlt hat“. Lörchen, die gute Seele mit der tiefen Stimme, ist ebenso lange im Torturm wie der Impresario selbst, sitzt am Telefon und an der Kasse und hat für Publikum und Künstler immer ein fränkisch- freundliches Wort. Seinerzeit sicher auch für Gerald Held, der sich heute Alexander nennt und in der „Pfarrhauskomödie“ von Heinrich Lautensack neben Volker Prechtel, der Schauspieler mit dem unverwechselbaren Gesicht und der markanten Nase, mitspielte. Das ist lange her, und Relin gestaltete seinerzeit das Programmheft wie ein Votivbild.
Auch Uraufführungen tauchen immer wieder im TTT-Programm auf. „Die Witwe zum grünen Baum“ mit Paula Braend von Georg Lohmeier gehörte dazu, wurde fürs ZDF aufgezeichnet, oder „Bilanz“ von Franz Xaver Kroetz, lange bevor er der Schwiegersohn von Veit Relin wurde. „Mit ,Wotans Baby oder Hitler im Kinderwagen‘“ wurden wir 1977 zu den Theatertagen in Mühlheim eingeladen, ein Transparent um den Turm herum erregte öffentliches Ärgernis“. Relin lächelt in der Erinnerung. Und er zeigt eine Widmung von Peter Turrini, dessen „Rozznjogd“ mit Marie Colbin, die sich damals noch Gabrielle nannte, ebenfalls im Torturm spielte: „Dem Rattenfänger Veit Relin in Liebe gewidmet“. Eine Erinnerung nach der anderen taucht auf, nette und traurige, schöne und erstaunliche. Zum Beispiel an Heidi Leupolt, die schon unter Gustaf Gründgens arbeitete, oder an das Albee-Stück „Der Mann, der drei Arme hatte“, eine Lebensabrechnung. In dem Ein-Mann-Stück verwirrte Veit Relin das Publikum so sehr, dass nach der zunächst ohne Applaus beendeten Vorstellung eine Frau auf ihn zukam mit den Worten: „Sind Sie doch nicht so unglücklich!. Es geht Ihnen doch gut“.
So schnell kann Sein und Schein ineinander fließen an einem magischen Ort wie in dem kleinen Turmtheater über der Hauptstraße.