„Ich habe keinen Atem. Ich habe nur Papier.“ Der Schlusssatz der Chronistin, gespielt von Alina Rank, hallt nach. Rund 100 Minuten hat sie das Publikum durch Amanda Lasker-Berlins „Jahre ohne Sommer“ geführt. Kein einfaches Unterfangen: Denn das, was sich im Studio des E.T.A. Hoffmann Theaters abspielt, fordert Publikum, Akteurinnen und Akteure vor und hinter den Kulissen sowie die Autorin gleichermaßen heraus.
Das Auftragswerk, dessen Uraufführung Mitte Oktober stattfand, verquickt historische Ereignisse mit der Gegenwart, verschränkt den Blick auf die jeweilige Gesellschaft über Epochen hinweg. Lasker-Berlin lässt die Geschehnisse interagieren, Zeiten und Stimmen verschwimmen –zusammengehalten von einer Chronistin, die im Laufe des Stücks ihre Neutralität mehr und mehr aufgibt. Nur in den ersten Minuten scheint sich die Frage zu stellen: Wie gehen die Bamberger Hexenverfolgungen im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts mit der dramatischen Geschichte einer Ärztin in den Corona-Jahren zusammen?
Unter der Regie der Autorin und der Dramaturgie von Armin Breidenbach und Pauline Donschen gelingt das mit Bravour. Sie tauchen die Szenerie in einen schlichten roten, mit Akten beladenen Raum. Sie machen den darüberstehenden Mond zu einer modernen Projektionsfläche und lassen die Spielenden in Blätterfluten mit ungeheuerlichen Inhalten eintauchen. „Ich stelle mir vor…“, sagt die Chronistin in einem harmlos anmutenden Ton. Doch dann tut sich das Unvorstellbare auf: Gewalt, Folter, Tod. „Amanda Lasker-Berlin lässt nicht nur die Menschen von damals zu Wort kommen. Sie kontrastiert die historischen Personen mit Figuren von heute und legt dabei den Fokus auf die Frauen“, erklären Armin Breidenbach und Pauline Donschen. Denn bis heute halte sich hartnäckig die Angst vor Frauen, die über Wissen und Macht verfügen und sich für gesellschaftlichen Wandel stark machen würden. Was also unterscheide die historischen Hexenjagden von der Hetze, die heute in sozialen Medien verbreitet werde und teilweise gewalttätige Mobs hervorbringe? Sie fragen: „Inwiefern prägen uns Vorstellungen, Bilder und Geschichten von damals auch heute noch?“ Beantworten sollte sich das jeder selbst.
Fest steht, Alina Rank, Martina Dähne, Eric Wehlan und Jeremias Beckford gelingt auf der Bühne eine „mitreißende Verwebung von Vergangenheit und Gegenwart, eine Collage aus feministischer Geschichte, die zeigt, wie sehr Frauenschicksale miteinander verbunden sind und wie sich Sexismus, Misogynie und Gewalt gegen Frauen durch die Jahrhunderte ziehen“. Das nun Gezeigte untermauert außerdem eine Einschätzung der Fachzeitschrift „Die Deutsche Bühne“. In deren Saisonbilanz 2023/24 erhielt das Bamberger Ensemble eine Nennung in der Kategorie „Gesamtleistung Großes Haus“. Diese bringt laut Jurybegründung zum Ausdruck, dass das E.T.A. Hoffmann Theater mit seinem künstlerisch ambitionierten Programm besonders beeindruckt hat. Chapeau!