Kloster Wechterswinkel zeigt Arbeiten des Chaoskonstrukteurs Herwig Kemmerich

von kar (erschienen in Ausgabe 07/2023)

Seit Anfang der 2000er Jahre setzt sich Herwig Kemmerich mit der Gestaltung von Landschaften und Eingriffen in die Natur auseinander. Prägendes Merkmal der „Land Art“ ist der gestalterische, bevorzugt minimalistische und oft radikale Eingriff in eine Landschaft zur Schaffung eines dreidimensionalen, stets ortsspezifischen und häufig vergänglichen Kunstwerkes, das das unmittelbare Erleben von Landschaft und Umwelt verändert und eine intensivierte Raumwahrnehmung provoziert.

Bei Landschaftseingriffen, raumbezogenen Installationen und konstruktiven Skulpturen verwendet Kemmerich diverse Materialien und Vorgehensweisen. Seine Werke haben oft erkennbare Paten wie Nester, Mauern oder eine Rakete, aber erklären sich im Kontext der plastischen Betrachtung neu. Als Experimentalstatiker und Chaoskonstrukteur erschafft der Bildhauer vielteilige Objekte, die durch veränderte Proportion, Übersetzung in ein anderes Material und verschobene Betrachtungsebenen gängige Wahrnehmungsmuster hinterfragen. Seine Ausbildung zum Holzbildhauer erhielt Kemmerich Ende der 1990er Jahre in Garmisch-Partenkirchen. Danach studierte er Freie Kunst an der Hochschule für Künste in Bremen und war 2007-2008 Meisterschüler bei Professor Bernd Altenstein. In Leipzig betrieb er ein Atelier und machte mit Ausstellungen in Leerständen auf sich aufmerksam. 2016 erhielt Kemmerich einen Lehrauftrag an der Staatlichen Berufsfachschule für Holzbildhauer, der ihn nach Bischofsheim in der Rhön führte. In Wechterswinkel dienen ihm seine ästhetischen Untersuchungen zu Angriffs-, Verteidigungs- und Fluchtmechanismen und -Fantasien als Grundlage der künstlerischen Umsetzung. Zu sehen sind Skulpturen und Objekte aus den Jahren 2005 bis 2022 und raumbezogene Eingriffe im Kloster und um die Klosteranlage.

Seit 2004 arbeitet der Bildhauer an der Serie BnBn, die sich auf die Ausgrabungsstätten um Göbekli Tepe (türkisch für „bauchiger Hügel“) in der Nähe von Sanl?urfa in der Türkei bezieht. Die zum Zeitpunkt nicht absehbare aber weitreichende Bedeutung dieses Fundorts für die Beurteilung der menschlichen Entwicklung in Form von Schichten über Schichten künstlich geschaffener Landschaftseingriffe belebt mit Attributen kultischer, wissenschaftlicher oder geschichtsschreibender Funktion, fasziniert den Land Art Künstler aus ästhetischer und anthropologischer Sicht.

Die bewusste Entscheidung, die Landschaftsskulpturen „Hügel“ zu nennen, basiert auf der Relation zwischen der Einzelperson und der Zeit. Während in Urzeiten Hunderte von Menschen Göbekli Tepe schufen und von zig weiteren Menschen dabei unterstützt wurden, erschafft Kemmerich bislang diese Earthworks solo und ohne maschinelle Hilfe als Referenz zur aufgebrachten Energie.

Für die vom 19. August bis 29. Oktober unter dem Titel „Anmassungen“ zu sehende Ausstellung erschafft der Bildhauer einen grasbewachsenen Hügel mit integrierten Eichenholzblöcken, die in ihrer Zusammenstellung eine Schießscharten artige Architektur zitieren. Der Hügel verschmilzt mit dem Skulpturengarten des Klosters.

Bildnachweis: Herwig Kemmerich

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